Carmens Wiedergängerin
„Wir dürfen niemals vergessen: Unsere vornehmste Aufgabe ist es zu leben“, erkannte der Philosoph Michel de Montaigne schon vor 500 Jahren. Eine Studie des Instituts Rheingold Salon kam jüngst zu dem Ergebnis, dass die Deutschen genau das verlernt haben. Zwar mache Genuss das Leben erst lebenswert, sagen fast alle – doch knapp die Hälfte der Menschen hat das Gefühl, dass das nur noch selten gelingt. Die den Genuss verloren haben, könnten Nachhilfe bei Annette Meisl nehmen: Die Kölner Sängerin und Autorin, die in Ehrenfeld eine Zigarrenmanufaktur und einen Salon betreibt, nennt sich selbst „Edel- oder Lebefrau“ („La Galana“ – so heißt auch ihre Zigarrenmanufaktur). Als sie vor sieben Jahren ein Buch über ihr Leben mit fünf Liebhabern schrieb („Das Sexperiment“) horchten manche der nicht mehr Genussfähigen auf. Am Dienstagabend hat Annette Meisl im Friedrich-Ebert-Saal in Bickendorf ihr Leben als Musikkabarett auf die Bühne gebracht: Begleitet von dem Multiinstrumentalisten und Produzenten Geo Schaller tritt sie in „Carmen 5.0“ als Alter Ego der wohl bekanntesten Lebefrau der Kulturgeschichte auf – ein Vollweib, das sich die Männer nimmt, die sie möchte, und sich eher wundert als lustig macht über die von der Monogamie Gestressten. Dabei bindet sie das Publikum mit ein, darf aber bei der Frage danach, wer auf Dating-Plattformen angemeldet ist, im Bett dominant ist oder auf Sado-Maso-Spiele steht, nicht auf allzu rege Mitmachlust hoffen.
Meisl erzählt von dem Mann, der nach dem Sex Eiswürfel zerbissen hat und widmet ihrem „Eskimo“ ein Lied, sie erinnert an Lotte Reiniger, die 1933 einen Silhouettenfilm (Scherenschnitt) über Carmen schuf, zeigt eine Filmsequenz, in der Carmen eine Zigarette pafft, bevor sie einen Mann verführt, und rollt wenig später, live gefilmt und an eine Leinwand geworfen, selbst eine Zigarre – inclusive einiger schlüpfriger Gags.
Die Rollenverteilung zwischen Meisl und Schaller ist ideal: Sie das Vollweib, er der schmächtige, schüchterne Kopftyp, ohne dessen musikalische Könnerschaft die Geschichten aber kaum getragen würden. In die Komik, die ein Leben mit fünf Männern mit sich bringt, mischt sich naturgemäß auch
Tragik: Zwar nennt die Autorin sich „Liebesexpertin“ und kann auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen – gefunden hat sie die dauerhafte Liebe indes bislang noch nicht. Beziehungsweise: Will sie womöglich gar nicht finden, weil es ihrer Natur ähnlicher ist, die Liebe in Vielen zu suchen. Eine Haltung, die nicht wenige Wissenschaftler übrigens für zukunftsweisend halten. Die klassische monogame Ehe ist auf lange Sicht in modernen Zivilisationen wohl eher ein Auslaufmodell.
Am stärksten ist Annette Meisl bei ihrem zweistündigen Parforceritt durch ihr Leben, immer dann, wenn sie singt: Ihre Stimme ist voll, der Atem lang, jeder Ton sitzt, sie beherrscht Oper, Ballade und verführerischen Sprechgesang, ihr selbst komponierter La-Galana-Song, bei dem sie am Ende neben Schaller der Gipsy-Musiker Rudi Rumstajn auf der Gitarre begleitet, ist ein Ohrwurm. Rotwein, Rum und Zigarren, die die Lebefrau nach der Premiere reichen lässt, hätten gut schon während des Auftritts gepasst.
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